Der EuGH muss über eine Erheblichkeitsschwelle bei Schadensersatzansprüchen nach der DSGVO entscheiden

Das Bundesverfassungsgericht hat gemäß Beschluss vom 14. Januar 2021 entschieden, dass deutsche Gerichte Klagen auf immateriellen Schadensersatz nach Art. 82 DSGVO nicht ohne Weiteres mit der Begründung abweisen dürfen, dass die geltend gemachte Beeinträchtigung lediglich einen Bagatellschaden darstelle.

Sachverhalt

Ein als Rechtsanwalt tätiger Beschwerdeführer erhielt am 7. Dezember 2018 eine Werbe-Email des Beklagten an seine berufliche Email-Adresse. Zwischen den Parteien blieb streitig, ob der Beschwerdeführer zuvor eine Bestellung bei dem Beklagten aufgegeben und dabei in die Übersendung von Werbe-Emails eingewilligt hatte. Mit Schreiben vom gleichen Tag mahnte der Beschwerdeführer den Beklagten ab.

Mit Klage vom 7. Januar 2019 beantragte der Beschwerdeführer erstens, den Beklagten zu verurteilen, es zu unterlassen, zu Werbezwecken mit ihm per Email Kontakt aufzunehmen oder aufnehmen zu lassen, ohne dass seine ausdrückliche Einwilligung vorliege, zweitens Auskunft über die ihn betreffenden gespeicherten Daten zu erteilen, drittens festzustellen, dass die geltend gemachten Ansprüche aus vorsätzlicher unerlaubter Handlung stammten, sowie viertens die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes zu verurteilen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde, das aber den Betrag von 500 Euro nicht unterschreiten solle. Das zu zahlende Schmerzensgeld begründete der Beschwerdeführer mit Verweis auf Art. 82 Abs. 1 Datenschutz-Grundverordnung, der für schuldhafte Verstöße gegen Vorschriften der Datenschutz-Grundverordnung ein angemessenes Schmerzensgeld vorsehe. Vorliegend sei seine Email-Adresse im Sinne des Art. 6 DSGVO datenschutzwidrig, weil ohne Einwilligung verwendet worden.

Das Amtsgericht gab zwar der Klage hinsichtlich des geltend gemachten Unterlassungs- und des Auskunftsanspruchs statt. Im Übrigen wies es die Klage ab. Ob die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu nicht vom Unionsrecht beeinflussten Fällen, wonach eine Geldentschädigung wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung einen schwerwiegenden Eingriff erfordere, der nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden könne, auch für den hier geltend gemachten und auf Art. 82 DSGVO gestützten Anspruch gelte, erscheine zwar mit Blick auf Satz 3 des Erwägungsgrundes 146 der DSGVO fraglich. Im Streitfall sei jedoch ein Schaden nicht ersichtlich. Es habe sich lediglich um eine einzige Werbe-Email gehandelt, die nicht zur Unzeit versandt worden sei, die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes deutlich gezeigt habe, dass es sich um Werbung handele, und die ein längeres Befassen mit ihr nicht notwendig gemacht habe.

Nach Zurückweisung einer Anhörungsrüge rügte der Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Beschluss des BVerfG

Die zuständige Kammer des BVerfG nahm die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des als verletzt gerügten Rechts des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angezeigt ist, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Diese Entscheidung kann von der Kammer getroffen werden, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde danach offensichtlich begründet ist, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

Gründe

Das Amtsgericht hat das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter verletzt, indem es aufgrund der teilweisen Klageabweisung, der dadurch für den Beschwerdeführer nicht erreichten Berufungsbeschwer (§ 511 Abs. 2 Nr.  1 ZPO) und der nicht zugelassenen Berufung letztinstanzlich tätig geworden ist und entgegen Art. 267 Abs. 3 AEUV von einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union abgesehen hat.

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen. Es kann einen Entzug des gesetzlichen Richters darstellen, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachkommt.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (acte éclairé) oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair). Davon darf das innerstaatliche Gericht aber nur ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Union die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen.

Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht vor oder hat er die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind. Jedenfalls bei willkürlicher Annahme eines „acte clair“ oder eines „acte éclairé“ durch die Fachgerichte ist der Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Amtsgericht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, indem es von einem Vorabentscheidungsersuchen wegen der zu klärenden Frage, ob im vom Beschwerdeführer vorgetragenen Fall der datenschutzwidrigen Verwendung einer Email-Adresse und der Übersendung einer ungewollten Email an das geschäftliche Email-Konto des Beschwerdeführers nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO ein Schmerzensgeldanspruch des Beschwerdeführers in Betracht kommt.

Das Amtsgericht hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden dürfen, dass sich kein Anspruch des Beschwerdeführers aus der ohne seine ausdrückliche Einwilligung erfolgten Übersendung der Email aus Art. 82 DSGVO ergebe, weil ein Schaden nicht eingetreten sei.

Der im Ausgangsverfahren zu beurteilende Sachverhalt warf die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen Art. 82 Abs. 1 DSGVO einen Geldentschädigungsanspruch gewährt und welches Verständnis dieser Vorschrift insbesondere im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 Satz 3 zu geben ist, der eine weite Auslegung des Schadensbegriffs im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verlangt, die den Zielen der DSGVO in vollem Umfang entspricht. Nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO hat jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen die DSGVO ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, Anspruch auf Schadensersatz gegen den Verantwortlichen, also diejenige natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet (vgl. Art. 4 Nr. 7 DSGVO).

Dieser Geldentschädigungsanspruch ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union weder erschöpfend geklärt noch kann er in seinen einzelnen, für die Beurteilung des im Ausgangsverfahrens vorgetragenen Sachverhalts notwendigen Voraussetzungen unmittelbar aus der DSGVO bestimmt werden. Auch in der bislang vorliegenden Literatur, die sich im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 wohl für ein weites Verständnis des Schadensbegriffes ausspricht, sind die Details und der genaue Umfang des Anspruchs noch. Von einer richtigen Anwendung des Unionsrechts, die derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bliebe (acte clair), konnte das Amtsgericht ebenfalls nicht ausgehen. Dies gilt umso mehr, als Art. 82 DSGVO ausdrücklich immaterielle Schäden einbezieht.

Die angegriffene Entscheidung zeigt, dass das Amtsgericht die Problematik der Auslegung des Art. 82 Abs. 1 DSGVO durchaus gesehen hat. Es hat sodann aber verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft eine eigene Auslegung des Unionsrechts vorgenommen, indem es sich für die Ablehnung des Anspruchs auf ein Merkmal fehlender Erheblichkeit gestützt hat, das so weder unmittelbar in der DSGVO angelegt ist, noch von der Literatur befürwortet oder vom Gerichtshof der Europäischen Union verwendet wird.

Gleiches gilt für den vom Beschwerdeführer mit angegriffenen Beschluss des Amtsgerichts, mit dem es die erhobene Gehörsrüge des Beschwerdeführers zurückgewiesen hat. Auch hier rekurriert das Amtsgericht auf das Bestehen eines bislang ungeklärten Merkmals eines Bagatellverstoßes im Rahmen des Art. 82 Abs. 1 DSGVO.

Die Antwort auf die Rechtsfrage, wie Art. 82 Abs. 1 DSGVO vor dem Hintergrund von Erwägungsgrund 146 in Fällen der Übersendung einer Email ohne Zustimmung auszulegen ist, war für die Entscheidung über den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Zahlungsanspruch entscheidungserheblich.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Fundstelle: Beschluss des BVerfG vom 14. Januar 2021 (Az.: 1 BvR 2853/19) – abrufbar im Internet unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/01/rk20210114_1bvr285319.html