Kündigung wegen Arbeitszeitbetruges

Verpflichtet sich der Arbeitgeber in einer Betriebsvereinbarung, eine personenbezogene Auswertung von Daten, die er durch den Einsatz von Kartenlesegeräten gewonnen hat, nicht vorzunehmen, kann sich auch der einzelne Arbeitnehmer darauf berufen.

Sachverhalt

Die Beklagte betreibt ein Hinweisgebersystem, mittels dessen Arbeitnehmer unter Wahrung ihrer Anonymität Hinweise zu Unregelmäßigkeiten, auch und insbesondere betreffend das Verhalten anderer Arbeitnehmer, geben können. Über dieses System wurde ein anonymer Hinweis gegeben, wonach mehrere Mitarbeiter einer Abteilung, darunter der Kläger, regelmäßig Arbeitszeitbetrug begingen.

Daraufhin wurde dem Kläger vorgeworfen, er habe erstens an einem Tag unbefugt den Werkausweis eines Kollegen vor das Lesegerät am Tor 5 gehalten, zweitens sodann – nach Vorhalten auch seines eigenen Ausweises – das Werksgelände zwar um 18:31 Uhr betreten, dasselbe jedoch um 20:58 Uhr wieder verlassen, obwohl der Kläger an diesem Tag zur Nachtschicht eingeteilt gewesen sei und von 21:30 Uhr bis um 05:30 Uhr habe arbeiten müssen. Zudem habe der Kläger an einigen anderen Tagen das Werksgelände jeweils einige Minuten vor Schichtende und einmal sogar 22 Minuten vor Schichtende verlassen.

Nachdem der Kläger zu den Vorwürfen nicht Stellung genommen hatte, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos, vorsorglich ordentlich fristgemäß zum nächstmöglichen Termin.

Vor dem Arbeitsgericht Hannover hatte der Kläger die fristlose Kündigung und mit Klageerweiterung die fristgerechte Kündigung angegriffen. Er hat dabei geltend gemacht, die fristlose Kündigung entbehre eines wichtigen Grundes, die hilfsweise ausgesprochene fristgerechte Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt. Er habe die ihm vorgeworfenen Pflichtwidrigkeiten nicht begangen. Die Videoaufzeichnungen und die Erkenntnisse aus der elektronischen Anwesenheitserfassung unterlägen einem Sachvortrags- und einem Beweisverwertungsverbot. Der Kläger hat weiter die nicht ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates gerügt. Hinsichtlich der außerordentlichen Kündigung hat er die Einhaltung der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist in Abrede gestellt.

Die Beklagte hat vor dem Arbeitsgericht vorgetragen, der Kläger habe mehrfach Arbeitszeitbetrug begangen, was eine außerordentliche, jedenfalls ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertige. Die Taten seien erwiesen, jedenfalls bestehe ein dahingehender dringender Verdacht.

In der Klageerwiderung hat die Beklagte zudem vorgetragen, der Kläger betrete das Werksgelände über ein sogenanntes Drehkreuz. Dabei müsse er seinen ihm persönlich zugeordneten Werksausweis vor ein Kartenlesegerät halten, damit dieses den Durchgang für den Kläger freischalte. In einem bei der Beklagten genutzten SAP-System werde dadurch die Anwesenheit mit Datum und Uhrzeit registriert. Durch die Verwendung der Werksausweise an den einzelnen Werkstoren würden aber lediglich sogenannte Infobuchungen im SAP-System ausgelöst. Diese Infobuchungen könnten von den Meistern für die Personaleinsatzplanung genutzt werden, seien jedoch für die Erfassung der Arbeitszeit und die Vergütung ohne Relevanz.

Abweichend von den Anwesenheitszeiten erfolge im Hinblick auf die vergütungspflichtigen Arbeitszeiten grundsätzlich keine „Erfassung“ durch den Kläger. Gemäß § 6 Abs. 3 der Arbeitsordnung beginne und ende die Arbeitszeit am Arbeitsplatz. Die vergütungspflichtige Arbeitszeit entspreche demnach grundsätzlich den Schichtzeiten. Anders sei dies bei den sogenannten Mehrarbeitsschichten, die zusätzlich zu den regulären Schichten angeordnet würden. Die in diesem Rahmen geleistete Arbeitszeit sei von der Beklagten nicht bereits vorab im SAP-System hinterlegt und müsse deshalb gesondert erfasst und in das SAP-System als vergütungspflichtige Arbeitszeit übernommen werden. Da in der Regel nur die Meister als direkte Vorgesetzte berechtigt seien, diese Arbeitszeiten in das SAP-System einzugeben, die Meister aber nicht immer bei den Mehrarbeitsschichten anwesend seien, würden bei angeordneten Mehrarbeitsschichten Excel-Listen geführt, die vor Ort für die Beschäftigten auslägen. In diese müssten sich die jeweils Beschäftigten - mithin auch der Kläger - eintragen, damit die nicht anwesenden Meister die Arbeitszeiten später in das SAP - System als Arbeitszeit eintragen könnten. Auf Basis dieser Eintragung erfolge die Vergütung des Klägers für die jeweilige Mehrarbeitszeit.

Aufgrund des anonymen Hinweises habe eine Untersuchung durch den Bereich Konzern Sicherheit Forensik stattgefunden. Dabei habe sich anhand der Auswertung von Videobildern ergeben, dass der Kläger an einem Tag um 18:31 Uhr am Eingang zum Werksgelände vor Tor 5 erschienen sei und einen Mitarbeiterausweis vor das Lesegerät am Drehkreuz gehalten habe. Anhand der Unterlagen zur Infobuchung habe die Beklagte festgestellt, dass es sich dabei nicht um den eigenen Ausweis des Klägers, sondern um den Ausweis seines Kollegen Herrn K. gehandelt habe. Der Kläger sei dann zum Parkplatz zurückgegangen, habe die Beifahrertür zu seinem Fahrzeug geöffnet, sich hineingebeugt und dann wieder abgeschlossen. Anschließend sei er erneut zum Eingang am Drehkreuz Tor 5 gegangen, habe seinen eigenen Mitarbeiterausweis vor das Lesegerät gehalten und das Werksgelände betreten. Der Kläger habe sodann um 20:58 Uhr und damit vor Schichtbeginn das Werksgelände wieder verlassen. Dennoch sei er während der vollen Schicht, d. h., von 21:30 bis 5:30 Uhr, im System als anwesend geführt worden mit der Folge, dass ihm der gesamte Mehrarbeitstag von der Beklagten voll vergütet worden sei. Das vorzeitige Verlassen sei mit dem Vorgesetzten nicht abgestimmt gewesen.

Auch an einigen anderen Tagen sei ihm die volle Schicht vergütet worden, obwohl er das Werksgelände ohne Abstimmung mit dem Vorgesetzen vorzeitig verlassen habe.

Die Beklagte erklärte zudem, dass sie den bei ihr zuständigen Personalausschuss des Betriebsrates zur beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung als Tat- und Verdachtskündigung angehört habe. Dabei sei den Mitgliedern des Betriebsrates ausführlich die einzelnen, oben aufgeführten Vorgänge des Arbeitszeitbetruges erläutert worden.

Die Beklagte hat erstinstanzlich ihre Auffassung vorgetragen, allein der eine Vorfall, bei der der Kläger die Schicht nicht angetreten und gleichwohl die volle Schicht vergütet erhalten habe – stelle einen derart massiven Arbeitszeitbetrug dar, dass auch ohne Abmahnung eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt sei.

Das Arbeitsgericht hatte erstinstanzlich dem Kläger recht gegeben und eine Kündigung ohne vorgängige Abmahnung als unverhältnismäßig bezeichnet.

Gegen dieses Urteil legte die Beklagte Berufung ein.

Urteil des Landesarbeitsgerichts

Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten für unbegründet erklärt. Das Arbeitsgericht habe im Ergebnis zu Recht erkannt, dass sowohl die fristlose Kündigung als auch die hilfsweise fristgerechte Kündigung das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet habe, da die behaupteten Pflichtwidrigkeiten des Klägers nicht erwiesen seien und auch kein hinreichend dringender Verdacht für ihre Begehung durch den Kläger bestehe. Auf die Frage, ob die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat ordnungsgemäß zu beiden Kündigungen angehört hat, komme es damit nicht mehr an. Ebenso könne dahinstehen, ob die Beklagte bei Ausspruch der außerordentlichen fristlosen Kündigung die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten habe.

Aus den Urteilsgründen

Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d. h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der (fiktiven) Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht.

Spiegelt ein Arbeitnehmer dem Arbeitgeber wider besseres Wissen vor, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbracht zu haben, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall war, so ist dieses Verhalten an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Dies gilt etwa für den vorsätzlichen Missbrauch einer Stempeluhr oder für das wissentliche und vorsätzlich falsche Ausstellen entsprechender Formulare. Dabei kommt es nicht entscheidend auf die strafrechtliche Würdigung an, sondern auf den mit der Pflichtverletzung verbundenen schweren Vertrauensbruch. Der Arbeitgeber muss auf eine korrekte Dokumentation der Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer vertrauen können. Überträgt er den Nachweis der geleisteten Arbeitszeit den Arbeitnehmern selbst und füllt ein Arbeitnehmer die dafür zur Verfügung gestellten Formulare wissentlich und vorsätzlich falsch aus, so stellt dies in aller Regel einen schweren Vertrauensmissbrauch dar. Der Arbeitnehmer verletzt damit in erheblicher Weise seine Pflicht zur Rücksichtnahme. Gleiches gilt für den Fall, dass der Arbeitnehmer in kollusivem Zusammenwirken mit anderen Arbeitnehmern oder durch vorsätzliche Falschangaben gegenüber anderen Arbeitnehmern zu seinem Vorteil eine unzutreffende Dokumentation der von ihm erbrachten Arbeitszeiten herbeiführt.

Der Vorwurf der Beklagten, der Kläger habe die Beklagte willentlich und wissentlich über die Erbringung der Mehrarbeitsschicht getäuscht, die er tatsächlich vollständig nicht erbracht habe, indem er das Betriebsgelände noch vor Schichtbeginn wieder verlassen habe, ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Gleiches könnte für den Vorwurf gelten, der Kläger habe bereits 22 Minuten vor Schichtende das Betriebsgelände verlassen. Hingegen stellen die weiteren behaupteten Pflichtwidrigkeiten selbst für den Fall, dass das Gericht sie als erwiesen ansehen würde, keinen wichtigen Grund an sich dar. Selbst wenn der Kläger das Werksgelände „einige Minuten“ vor Schichtende verlassen haben und die Beklagte insoweit über seine Anwesenheit getäuscht haben sollte, liegt hierin allein kein wichtiger Grund, der die Beklagte zu einer außerordentlichen Kündigung berechtigen würde. Mangels näherer zeitlicher Konkretisierung durch die Beklagte ist zu Gunsten des Klägers davon auszugehen, dass es sich in den beiden letztgenannten Fällen jeweils um weniger als zehn Minuten gehandelt hat. Derartige Pflichtverletzungen sind selbst dann, wenn sie vorsätzlich und wiederholt erfolgen, aufgrund ihres geringen Schweregrades ohne wirksame vorgängige Abmahnung nicht geeignet, einen wichtigen Grund abzugeben. Eine wirksame vorgängige Abmahnung hat die Beklagte dem Kläger nicht erteilt.

a) Einsatz eines Kartenlesegerätes

Der Arbeitgeber trägt zu einem behaupteten Arbeitszeitbetrug nur dann ausreichend vor, wenn er nicht nur nachvollziehbar schildert, dass der Arbeitnehmer an dem betreffenden Tag seine Arbeitsleistung nicht oder nicht vollständig erbracht hat, sondern auch substantiiert darlegt, dass und auf welche genaue Weise der Arbeitnehmer den Arbeitgeber über die Erbringung der Arbeitsleistung getäuscht hat. Eine Täuschung liegt erst dann vor, wenn der Arbeitnehmer wider besseres Wissen die Behauptung aufstellt, die (vollständige) Schicht abgeleistet zu haben, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall war.

Der Kläger hat die ihm vorgeworfenen Pflichtwidrigkeiten ausreichend bestritten. Die Beklagte hatte daher ihre Behauptungen, der Kläger habe den Arbeitsplatz vorzeitig verlassen sowie unberechtigt den Ausweis seines Kollegen K. vor das Kartenlesegerät gehalten, zu beweisen. Diesen Beweis vermag die Beklagte im Ergebnis nicht zu führen.

Der Beklagten ist es mittels Betriebsvereinbarung verwehrt, Daten, die sie mit Hilfe der elektronischen Anwesenheitserfassung durch Betrieb von Kartenlesern gewonnen hat, in das Verfahren einzuführen. Diese Regelung in der Betriebsvereinbarung gilt unmittelbar und zwingend (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG) und soll den betroffenen Arbeitnehmern, wie ihre Auslegung durch das erkennende Gericht ergibt, eigene Rechte einräumen.

Die Beklagte muss sich an die Regelungen in der Betriebsvereinbarung dem Kläger gegenüber gebunden halten. Dies gilt selbst für den Fall, dass, wie die Beklagte behauptet, das örtlich und sachlich zuständige Betriebsratsgremium der Verwertung der durch die Kartenlesegeräte gewonnenen Erkenntnisse über die Bewegungen des Klägers nachträglich zugestimmt haben sollte. Eine rückwirkende Beseitigung der dem Kläger durch die Betriebsvereinbarung eingeräumten Rechte ist nicht möglich, da der Kläger insoweit Vertrauensschutz genießt. Mindestens hat die Beklagte den Kläger durch den Abschluss der Betriebsvereinbarung „in Sicherheit gewiegt“, so dass eine „berechtigte Privatheitserwartung“ des Klägers bestand und daraus folgend im vorliegenden Verfahren ein Verbot der Verwertung der durch die Kartenlesegeräte gewonnenen Daten besteht.

b) Videoaufzeichnungen

Die von der Beklagten in das Verfahren eingeführten Videoaufzeichnungen sowie angebotene Aussagen von Zeugen, die diese Aufzeichnungen angesehen und ausgewertet haben, sind ebenfalls nicht verwertbar.

Der Beklagten ist es bereits deshalb verwehrt, auch die mit Hilfe der Videoüberwachung gewonnenen Erkenntnisse in das Verfahren einzuführen, weil auch hier zu ihren Lasten davon auszugehen ist, dass sie den Kläger in Sicherheit gewiegt und dessen berechtigte Privatheitserwartung verletzt hat.

Auf die hier streitgegenständlichen behaupteten Pflichtwidrigkeiten sind das Bundesdatenschutzgesetz in der ab dem 25.05.2018 geltenden Fassung (im Folgenden nur: BDSG) sowie die Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union (DSGVO) anzuwenden.

Die Beklagte hatte bei dem Einsatz der Videoüberwachungsanlage an den betreffenden Tagen die Bestimmungen der DSGVO und des BDSG in der ab dem 25.05.2018 geltenden Fassung zu beachten.

Für ein Beweisverwertungsverbot kommt es auf die Frage an, ob ein Eingriff in das Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung vorliegt und ob dieser Eingriff zulässig ist.

Die Verarbeitung und Nutzung von (auch mittels einer Videoüberwachung) erhobenen personenbezogenen Daten nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG muss „erforderlich“ sein. Es hat eine „volle“ Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen. Die Verarbeitung und die Nutzung der personenbezogenen Daten müssen geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung der gewährleisteten Freiheitsrechte angemessen sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Es dürfen keine anderen, zur Zielerreichung gleich wirksamen und das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen weniger einschränkenden Mittel zur Verfügung stehen. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) ist gewahrt, wenn die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht. Die Datenverarbeitung und -nutzung darf keine übermäßige Belastung für die Betroffenen darstellen und muss der Bedeutung des Informationsinteresses des Arbeitgebers entsprechen. Dies beurteilt sich ggf. für jedes personenbezogene Datum gesondert.

Die Heranziehung, Betrachtung und Auswertung der Videoaufzeichnungen der an den Toreingängen zum Betriebsgelände der Beklagten installierten Kameras zum Zwecke der Prüfung, wann der Kläger das Betriebsgelände betreten und verlassen hat, stellt eine Verarbeitung personenbezogener Daten von Beschäftigten i. S. d. § 26 Abs. 1 BDSG dar. Sie ist vorliegend weder für die Durchführung noch für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses (Satz 1) noch für die Aufdeckung einer Straftat (Satz 2) erforderlich.

Es fehlt bereits an der grundsätzlichen – abstrakten - Geeignetheit des eingesetzten Mittels der Videoüberwachung, um den hier von der Beklagten erstrebten Zweck der Überprüfung eines vertragsgemäßen Verhaltens sowie des Nachweises eines Arbeitszeitbetruges zu führen. Die Aufzeichnungen der Videokameras dokumentieren lediglich den Zutritt der Arbeitnehmer auf das Werksgelände sowie das Verlassen desselben. Die Arbeitszeit beginnt nach der bei der Beklagten geltenden Arbeitsordnung nicht mit dem Betreten des Werksgeländes und endet nicht mit dessen Verlassen. Sie beginnt erst und endet schon mit dem Erreichen bzw. Verlassen des auf dem weitläufigen Betriebsgelände befindlichen Arbeitsplatzes. Aus der Videoaufzeichnung kann nur auf eine Anwesenheit des Arbeitnehmers auf dem Betriebsgelände, nicht aber auf seine Anwesenheit am Arbeitsplatz geschlossen werden. Zudem ist fraglich, ob Arbeitnehmer, die das Werksgelände mit Schutzkleidung oder – beispielsweise im Winter – mit Kopfbedeckung betreten, stets hinreichend klar identifiziert werden können. Angesichts des Umstandes, dass der Zugang zum Werksgelände durch zahlreiche Eingänge möglich ist, wären Schlüsse auf die An- oder Abwesenheit von Arbeitnehmern auf dem Werksgelände zudem grundsätzlich nur dann mit hinreichender Sicherheit zu ziehen, wenn die Aufzeichnungen sämtlicher Videokameras für den betreffenden Zeitraum lückenlos, also ohne zeitliche Unterbrechungen, gefertigt und auch ausgewertet würden, da ansonsten nicht sicher davon ausgegangen werden kann, dass sämtliche Zutritte, auch z. B. solche, die im Anschluss an das Verlassen des Werksgeländes (z. B. nach einer Pause) erneut erfolgen, auch erkannt werden.

Das Mittel der Videoüberwachung und -aufzeichnung ist darüber hinaus zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten und zur Aufdeckung einer damit im Zusammenhang stehenden Straftat auch nicht erforderlich, da hierzu andere Mittel zur Verfügung stehen, die die Ableistung von Arbeitszeiten verlässlicher dokumentieren. So kann an dem Ort, an dem die Arbeitsleistung nach der Arbeitsordnung der Beklagten beginnt und endet – d.h., der Betriebsabteilung auf dem Gelände, in der sich der Arbeitsplatz befindet – eine Anwesenheitserfassung der Beschäftigten durch Vorgesetzte oder auch durch technische Einrichtungen wie eine Stempelkarte erfolgen.

Das Mittel der Videoüberwachung ist schließlich vorliegend zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten und zur Aufdeckung einer damit im Zusammenhang stehenden Straftat auch nicht angemessen. Sowohl die sachliche als auch die zeitliche Intensität des Eingriffs sind erheblich und stehen vorliegend außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe. Die Videokameras erfassen sämtliche Zu- und Abgänge von Arbeitnehmern an sämtlichen Eingängen zum Betriebsgelände durch Bildaufzeichnungen. Aus ihnen lassen sich auch Schlüsse darauf ziehen, mit welchem zeitlichen Vorlauf zum Beginn der Arbeitszeit der Arbeitnehmer das Gelände betritt, wie er gekleidet ist, ob und von wem er ggf. begleitet wird u. a. m. Vor allem aber hat die Beklagte bei ihren Untersuchungen von Unregelmäßigkeiten auf Videoaufzeichnungen zurückgegriffen, die erhebliche Zeit zurücklagen. Der Untersuchungsbericht der Konzern Sicherheit Forensik führt als Datum den „07.06.2019“ auf. Da der Bericht zeitlich nachgelagerte Ereignisse enthält, so etwa die sämtlich am 26.08.2019 durchgeführten Befragungen des Klägers und seiner Kollegen, kann der Bericht nicht am 07.06.2019 abgeschlossen worden sein. Ob es sich um den Beginn der Ermittlungen handelt, ist nicht vollständig klar. Jedenfalls liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beginn der Ermittlungen eine maßgebliche Zeit vor dem 07.06.2019 lag. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass die Beklagte sich zur Aufklärung der anonym erhobenen Vorwürfe der Sichtung von Videoaufzeichnungen bedient hat, die seinerzeit bereits (teilweise) ein Jahr lang zurücklagen. Diese Vorgehensweise widerspricht eklatant den Grundsätzen der Datenminimierung und Speicherbegrenzung, die in Art. 5 DSGVO als dem maßgeblichen und nicht durch Art. 88 DSGVO verdrängten europäischen Recht ihren Niederschlag gefunden haben, wobei angesichts des zeitlichen Ausmaßes des Rückgriffs unentschieden bleiben kann, ob die – auch aus Sicht der Kammer recht weitgehende - Ansicht der Datenschutzaufsichtsbehörden (DSK, Kurzpapier Nr. 15) zutrifft, dass Videoaufzeichnungen regelmäßig binnen 48 Stunden zu löschen sind.

Fundstelle: Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 06.07.2022, 8 Sa 1148/20 – abrufbar im Internet beispielsweise unter https://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml?doc.id=JURE220033901&st=ent&doctyp=juris-r&showdoccase=1&paramfromHL=true#focuspoint